Wie der Kater ADAGIO ZU MIR KAM

Veröffentlicht bei mueckenschwein verlag, 2011

Ich hatte irgendwann mal gelesen, dass es in Italien eine Fabrik gibt, in der man seine Flügel reparieren lassen kann. Es war ein zeitgenössischer Roman, in der die Autorin schrieb, dass jeder Mensch Flügel habe. Weil diese unsichtbar seien, würden sie oft vernachlässigt. Mal krumm, mal klebrig. Man kann leider Flügel nicht sehen, aber hin und wieder auf der Strasse sieht man Leute, als ob sie auf dem Rücken etwas Schwieriges tragen und mitschleppen müssen. Deine Familie, Freunde oder Partner könnten abgetragene Flügel sanft streifen, dann ist es meistens wieder in Ordnung. Aber selber reparieren ist fast unmöglich, denn wie man weiß, ist es schwer sich alleine den Rücken zu schrubben. 

Seitdem träumte ich von einem massiven Tisch in einer solchen Fabrik. Aus Holz, eckig und schlicht, nicht so kalt wie aus Metall oder Glas, aber bestimmt so sehr schwer – wie ein Flügel.

Im Jahr 2007 machte ich Ende Januar wieder eine Reise, um eine neue Stadt und ein neues Leben zu finden. Bis dahin war es mein Herzenswunsch mein Haustierbuch zu erschaffen. Warum ich mit so einem Haustierbuch 7 Jahre lang beschäftigt war, dafür gab’s Episoden und Gründe. Es ging um die Liebe. Es ging um die Tiefe.

Zum Glück war nun dieser Traum in Erfüllung gegangen. Das sollte eigentlich eine himmlische Freude sein, aber in dem Moment war ich so kaputt und orientierungslos. All mein Leben steckte ich in die Verwirklichung meines Traums, aber es war ein harter Kampf. Es gab kein Rezept dafür Zeichnerin zu werden. Dennoch aus freien Strichen Butter und Brot zu verdienen, war für mich fast so wie in der alchemistischen Küche aus Steinen Gold zu backen. In andauerndem Überlebenskampf an sich zu glauben und weiter zu gehen, hätte ich nicht mehr geschafft ohne meine Freunde, die mir immer Kraft und Mut gegeben hatten. Nun nach dem ich mein Ziel erreicht hatte, merkte ich meine Flügel, wie sie schwer an meinem Rücken herab hingen, mit eingeklemmten, verklebten, schmerzenden Federn. Ich konnte nicht mehr zeichnen. 

Als ich an einem Abend mit dem letzten Zug in Ventimiglia ankam, merkte ich, dass hier nicht mehr Frankreich sondern Italien war, denn ich las auf einem Schild „POSTA“. Im Bahnhofslokal war noch viel Betrieb. Dort lernte ich einen netten alten Lokomotivführer kennen. Er und sein jüngerer Kollege sprachen mich an, als ich eine Weile wie ein seltsamer Gast schweigsam mit Skizzenblock und Coca-Cola am Tisch saß. Die Beiden luden mich auf einen leckeren Zitronenlikör ein. Das machte unser schlechtes Englisch lustiger und wir lachten viel. Da fiel mir auf, dass ich bis dahin lange nicht mehr gesprochen hatte. Das Letzte Wort, das ich mit jemandem gewechselt hatte, war auf dem Karneval in Cadiz gewesen. Dannach hatte ich Begegnung in der wir keine Worte brauchten. Kurz vor Avignon zum Beispiel hatte ich im Zug zusammen mit einem schüchternen Jungen und seiner Mutter, die eine sehr ruhige Ausstrahlung hatte, gezeichnet. Ich fühlte mich dadurch geborgen, und vermisste sehnlich meine Kindheit.

Am Strand in Nice hatte ich mit einem Reisenden eine Zigarrette geteilt. Es war ein Abend an dem der Wind strömte.

An der Theke war es so gemütlich, dass wir geredet haben, bis alle Gäste im dunkeln Heimweg verschwunden waren. Ich erzählte den Lokomotivführern, dass ich am nächsten Morgen nach Cuneo fahren würde, um einen alten Freund zu besuchen. Die Idee kam mir wie immer plötzlich, als ich auf dem gelben Reiseplan am Bahnhof „CUNEO“ gelesen hatte. (Meine Reisen hängen meistens vom Wetter und Wind ab). Cuneo liegt an der Grenze zwischen Frankreich und Italien. Also warum sollte man das nicht tun! So kam mir die Idee. 

Die beiden Lokomotivfahrer wunderten sich, dass die kleine Giapponese den Ort Cuneo kannte, der etwas versteckt zwischen den Bergen und Flüssen liegt. Na klar. Stolz erzählte ich mein letztes Abenteuer mit Viola und Gianluca. Obwohl es schon einige Jahre her war, sprudelten die Erinnerungen frisch aus dem Brunnen. Schon oft hatten sie mein trockenes Stadtleben bereichert. Es gibt wirklich Orte, wo Zauberer und Zwerge, Pinocchio und Feen wohnen. Die beiden Herren nannten mir einen guten Anschluss nach Cuneo und gaben mir Reisetipps. So war ich die Nächste und die Letzte, die in der dunklen Gasse verschwand.

Als ich am nächsten Morgen Gianluca anrief, konnte ich ihn nicht erreichen. Er arbeitet in einer Apotheke, um an einer Abendschule Kunst studieren zu können. So fuhr ich erstmal nach Genova, und bummelte durch die Stadt herum. Ich nahm an einer Vorlesung in einem prächtigen Saal in der Universität teil. Dort wurde mir aber schnell langweilig und ich fing an zu zeichnen, genau wie damals, als ich eine Studentin war. 

Egal ob Luca zu Hause war oder nicht, wollte ich doch so gerne wieder nach Cuneo. Und dann klappte es. Kurz bevor ich in den Zug nach Cuneo umstieg, rief ich von einer Telefonzelle Luca an. Vor meinen Augen stand ein geschnitzter Holzengel. „Ciao Luca, hier spricht Maki. Ich bin in Mondovi.“ Gianluca war etwas überrascht aber er freute sich sehr und wir verabredeten uns gleich eine Stunde später an dem Bahnhof, an dem wir uns nach dem letzten Besuch verabschiedet hatten. 

Bei Gianluca war alles wunderbar. Obwohl es ein Überraschungsbesuch war, und unsere hübsche Viola diesmal fehlte, empfing er mich mit seinem warmen und zärtlichen Herzen. Ich denke mir manchmal, wenn es die umgekehrte Situation gewesen wäre, also Luca mich vom Hauptbahnhof angerufen hätte, ob ich ihn dann genauso herzlich empfangen hätte können? Seine Freundschaft und Treue, das ist etwas, was ich auf der Welt sehr wertschätze. Bei ihm habe ich keine Angst mehr vor dem Leben. 

Er zeigte mir, was er in der letzten Zeit gemacht hatte. Stillleben, Aktzeichnen, Töpferei, Schnitzerei…. Er hatte alles in seiner Mappe schön aufgehoben.  Als ob er gewusst hätte, dass Viola und ich bald wieder hierher kommen würden. Während er kochte, zeichnete ich ihn und da fiel mir ein, dass meine Kunsttheorie hier entstanden war. Wir hatten vor Jahren ein nettes Gespräch über die Kunst. „Bildende Kunst ist oft wie Kochen. Es gibt Salz und Pfeffer, Zucker und Essig, damit man leckere Gerichte voller Geheimnisse zubereiten kann.“ Damit wollte ich diesem gut gelernten Koch sagen, dass er eigentlich schon weiß, worum es geht.

Nach einem guten Essen spielte Gianluca Klavier. „Melodia in Fa“, „Somebody loves me“ und „ADAGIO della Sonata: Al Chiaro di Luna“ von Beethoven. Das klang melancholisch, und so als ob Gianluca mitweinte. Tage später, als wir uns über übliche Sachen unterhielten, erzählte Gianluca mir, dass er gerade schlimmen Liebeskummer habe. Mir ging es nicht besser als ihm, hatte ich bisher doch nur Pech mit der Liebe gehabt. Vor Einsamkeit und Schmerz hätte ich schon viele Male sterben können. So hatte ich in diesem Moment zwar keine gute Idee für Luca, aber trösten, das konnte ich. Denn mit einem guten Freund über Steine im Herzen zu reden hilft manchmal.

Dann reiste ich wieder ab, weiter nach Osten.

Als ich Gianluca verabschiedete, merkte ich, dass mir meine Federn nicht mehr weh taten. Beide Flügel waren wieder in Ordnung. Wie lange hatte ich mir das gewünscht!

Auf der Reise tauchte plötzlich ein Kater auf – in meinem Skizzenbuch. Ich nannte ihn ADAGIO nach den Musiknoten von Gianluca und spielte mit ihm, wenn ich alleine im Café saß oder stundenlang nichts zu tun hatte.

Irgendwann bekam ich eine Nachricht von einer Muse aus Berlin  – meine zukünftige Kollegin. So entschied ich nach Berlin zurückzukehren und dort neu anzufangen. Von da an begann ADAGIO langsam mit mir mit zu wachsen. Allzu gern hätte ich Geschichten mit ihm erzählt, aber das könnte noch ne Weile dauern, weil ADAGIO die Tempobezeichnung in der Musik für „LANGSAM“ ist. Mit diesem Kater wollte ich weiter herumreisen und die ganze Welt mit unserer Langsamkeit anstecken, die ich in meinem Berliner Alltag entdeckt hatte.

Als ich 2010 wieder in Cuneo landete, waren Gianluca und ich beide wieder schwer verletzt von der Liebe. Wenn man jemanden von Herzen liebt und ihm vertraut, und dann merkt, dass man belogen wurde, da dreht die Welt um. Ich hatte keine Tränen mehr. Das Atmen ging automatisch, aber der Sauerstoff brachte keine Gefühle mehr. Doch dann wurde ich wieder sorgfältig und sanft aufgenommen von Gianluca und seine Freundschaft baute mein Vertrauen wieder auf.  Seine Klaviernoten lagen genauso da wie 3 Jahre zuvor, so fand ich auch ADAGIO wieder.

……

Auf dem Holztischbrett lag ich auf dem Bauch, und meine beiden verkrümmten, verkrampften und verkratzten Flügel wurden sanft gestriffen……

 



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